Der Alltag eines Wanderschäfers ist seit je geprägt von Dingen, die uns allen guttun würden: Entschleunigung, gepaart mit fokussierter Aufmerksamkeit. Heute ist die Schäferei ein Balanceakt zwischen der harten Realität unserer Zeit und der glücklichen Erfülltheit des Moments in der Stille der Natur.
E in leichter, warmer Wind weht an diesem Spätsommertag über die Hochebene der Schwäbischen Alb. Insekten summen in den hohen Gräsern, und Schmetterlinge flattern über die lilablühenden Disteln. Friedlich dazwischen, nur unterbrochen durch einzelne Blöker, malmen Schafe das trockene Gras, während ihre Lämmer munter um sie herumspringen. Am Rande der riesigen Schafherde steht Bernd Burkhardt. Der junge Schäfer lässt seinen Blick langsam über seine 480 Merinolandschafe schweifen, bis hin zum Horizont, wo blauschwarze Gewitterwolken aufziehen. Unter dem tief ins Gesicht gezogenen Schäferhut blitzen wache, hellblaue Augen hervor. Er murmelt entspannt: „Das sieht gefährlicher aus, als es ist. Regen kommt heute nicht mehr.“ Inmitten der Stille und Weite dieser einzigartigen Kulturlandschaft wirkt er wie ein romantisches Relikt aus alten Zeiten. Tag für Tag führt er seine Tiere über die riesigen, offenen Weideflächen bei Münsingen im Herzen des Biosphärengebiets der Schwäbischen Alb. Doch was auf den ersten Blick wie eine Bilderbuch-Szenerie wirkt, birgt mehr moderne Herausforderungen, als man erahnen mag – dies zeigt ein Blick auf seinen Arbeitsalltag.
Schafe machen keine Pause
An jedem Morgen zwischen April und November, wenn er sich von seiner Frau und seinen zwei Kindern verabschiedet hat, macht sich Bernd Burkhardt auf den Weg zu den Weideflächen. Als erstes befreit er seine Schafe und deren Lämmchen aus dem Pferch, in dem sie geschützt die Nacht verbracht haben. Dabei beobachtet und begutachtet er jedes einzelne Tier: „Ich schaue, ob es ihnen gut geht, oder ob ich etwas tun muss.“ Und es gibt immer was zu tun: An einem Tag lahmt ein Mutterschaf, am nächsten trinkt ein schwaches Lämmchen nicht, die Wanderschäferei was auf den ersten Blick wie eine Bilderbuch-Szenerie wirkt, birgt mehr moderne Herausforderungen, als man erahnen mag.
Schafe müssen immer wieder entwurmt und natürlich auch geschoren werden, wenn ihnen die Wolle über die Ohren wächst. Sind die Tiere dann auf der Weide, traben die beiden Hütehunde eifrig auf und ab und reagieren blitzschnell, wenn ein neugieriges Schaf womöglich ausbüxen will. Der Schäfer schmunzelt: „Jedes Schaf hat seinen eigenen Charakter, das eine frech, das andere lammfromm.“ Die Tiere und die tief entspannende Stille der Natur sind Bernd Burkhardts Leben, soviel ist unübersehbar: „Ganz besonders herrlich ist es hier im Frühling, wenn der wilde Thymian blüht und alles duftet.“ Dass er dieses Leben liebt, nimmt man dem bodenständigen jungen Mann sofort ab. Gelernt hat der 33-Jährige einen anderen Beruf, nämlich Metzger, doch bald zog es ihn zurück in die Schäferei, die seine Familie in der vierten Generation betreibt. „Das muss von innen heraus kommen“, sagt er, „Wanderschäfer zu sein, geht nur mit viel Herzblut.“ Dass eine solche Berufung ‚weitervererbt‘ werden kann, sieht man auch am vierjährigen Sohn Hannes, der ihn zusammen mit seiner Mutter Lena und dem kleinen Bruder Max am Nachmittag besucht. Hannes streift sofort sein Schäferhemd über, grinst verschmitzt, nimmt die Hirtenschippe in die Hand und wandert herum wie ein Großer. „Ich will heute ganz lang beim Papa bleiben“, wünscht er sich. Lena Burkhardt, Bernds Ehefrau, kümmert sich um die Kinder, aber auch um die vielen organisatorischen Dinge, die in einer Schäferei anfallen: „Wir arbeiten 365 Tage im Jahr, mit viel Ruhe und ohne Zeitdruck, aber rund um die Uhr“, sagt die 27-Jährige. Alles richte sich nach den Schafen. Urlaub ist da nicht drin und keine Freizeit im üblichen Sinn. Ihr Mann ergänzt: „Richtig anstrengend wird es nur dreimal im Jahr, wenn gelammt wird.“ Wenn neue Lämmchen das Licht der Welt erblicken, gebe es halt viel mehr zu tun. „Die Schafe lammen zwar selbst, meist ohne unsere Hilfe, doch dann müssen wir frühmorgens gleich schauen, wie es den Tieren geht, ob die Lämmer trinken und die Mütter wohlauf sind. In dieser Zeit begleiten wir die Tiere viel enger.“ Dazu ist Fachwissen und Erfahrung gefragt. Alles andere, was ein Schäfer unbedingt braucht, scheint Bernd Burkhardt im Blut zu haben: Vertrauen in die natürlichen Vorgänge, viel Ruhe und Geduld, scharfe Sinne, dauerhafte Geistesgegenwart und eine gute Beobachtungsgabe. Und eine ganz wichtige Sache, die sich nicht erlernen lässt, kommt noch hinzu: Intuition. Lena Burkhardt erzählt: „Erst vor kurzem, nachdem wir die Herde abends verlassen haben, hatte ich die ganze Zeit ein mulmiges Gefühl. Ich wusste, irgendetwas stimmt nicht. So bin ich nochmal zu den Schafen hingefahren, und siehe da: Es zog ein Unwetter auf, ein Ast stürzte auf den Elektrozaun. Ich habe die Tiere dann mitten in der Nacht an eine windgeschützte Stelle gebracht.“
Perfekt angepasste Landschaftspfleger und Artenschützer
Für die Landschaft auf der Alb ist die Tradition der Wanderschäferei ein Segen. Sie schützt die Artenvielfalt, denn die Schafe halten auf natürlichem Weg, ohne den Einsatz von Maschinen und Chemie, die Landschaften „offen“. Was das bedeutet, erklärt uns Lena: „Schafe fressen selektiv, also zuerst alles, was ihnen besonders gut schmeckt. Alle anderen Pflanzen lassen sie erst einmal stehen, so können die in Ruhe wachsen.“ Auf diese Weise findet die Natur immer wieder in ein natürliches Gleichgewicht zurück. Aber nicht nur das, Schafe sind zudem „Samentaxis“.
In ihrem Fell verheddern sich laufend Samenstände und Pflanzenteile, die mit der Wanderherde zusammen den Standort wechseln. So wird heimlich, still und leise Saatgut weiterverbreitet.
Auch kleine Insekten und Spinnen verstecken sich gern in der warmen Wolle und wandern mit den Schafen an andere Orte. So befördern Schafherden den genetischen Austausch. Außerdem hinterlassen die wolligen Tiere an ihren Weideplätzen Kot und Urin, die wie ein natürlicher Dünger wirken und zu einer Nährstoff-Umverteilung auf der beweideten Fläche führen. Insekten, die von den Schafsköteln angelockt werden, dienen wiederum Vögeln als Nahrung. Im Gegensatz zu vielen anderen Bereichen der Landwirtschaft ist die zunehmende Dürre infolge des Klimawandels für die Wanderschäferei kein Problem. Anhaltendes Regenwetter hingegen schon: „Nasses Gras führt bei Schafen oft zu Verdauungsbeschwerden und Blähungen, und aus dem nassen Gras können auch weniger Nährstoffe aufgenommen werden. Außerdem gibt es dann viel mehr Würmer und Parasiten, die die Tiere befallen können“, erklärt der Schäfer.
Balance zwischen Realität und Idealismus
Anerkennung für ihren Beitrag zum Natur- und Landschaftsschutz bekommen die Wanderschäfer von den Verantwortlichen des Biosphärengebiets
Schwäbische Alb – und auch von so manchem Naturliebhaber, der auf den Feldwegen wandernd unterwegs ist. Die Gestalt des Schäfers weckt romantische Sehnsüchte nach längst vergangenen Zeiten, als die Natur noch überall intakt war. Doch so ideal ein Leben als Wanderschäfer auf den ersten Blick auch scheinen mag, die Realität sieht oft anders aus. Von den Produkten ihrer Tiere leben können die Schäfer schon längst nicht mehr. Etwas Lammfleisch können sie zwar zum Teil noch direkt vermarkten, aber die Wollverarbeitung ist in Deutschland so teuer und aufwändig, dass sie sich nicht mehr lohnt, auch wenn es auf der Alb noch einige Betriebe gibt, die sie zu Kleidung verarbeiten. „Das liegt daran, dass der Prozess des Wollewaschens meist sehr arbeitsintensiv ist, und die Auflagen in Deutschland sehr hoch sind. Schon seit einiger Zeit gibt es deshalb keine einzige Wollwäscherei mehr in Deutschland“, berichtet Bernd Burkhardt. Deshalb muss die Schafwolle zum Waschen ins Ausland gebracht werden, nach Polen oder Belgien. Andererseits erhalten die Wanderschäfer auf der Schwäbischen Alb Geld aus Landschaftspflegeverträgen mit dem Land Baden-Württemberg, in denen sie sich verpflichten, ihre Herden auf bestimmten Flächen weiden zu lassen. Zusätzlich unterstützt die Europäische Union die Schafhaltung mit Fördergeldern. „Inzwischen sind wir zum großen Teil auf diese Fördergelder angewiesen. Insgesamt liegt der Anteil dessen, was wir aus eigener Tasche erwirtschaften können, nur noch bei rund 20 Prozent“, sagt Lena Burkhardt, „obwohl wir sehr gern alles selbst bewältigen würden – aber ohne diese Unterstützung könnten wir nicht überleben.“
Sollten die staatlichen Mittel irgendwann gestrichen werden, würde dies das Aus für den ganzen Berufsstand bedeuten. Die Fördergelder müssen jedes Jahr neu beantragt werden. Voraussetzung ist eine korrekte Dokumentation, zum Beispiel mit Weidetagebüchern, Erfassung der pflanzlichen „Kennarten“ als Indikator für Artenreichtum, Einzeltierkennzeichnungen und Bestandsmeldungen. Der wachsende bürokratische Aufwand kostet die Burkhardts viel Zeit und Nerven. Doch allen Problemen und Risiken zum Trotz sind sie mit großer Leidenschaft zugange. Auch hier zeigt sich eine Balance: die zwischen harter Realität und dem idealistischen Glauben an eine erfüllende Berufung.
„Es ist kein Bilderbuch-Leben“, sagt Lena Burkhardt. „Aber wir würden niemals tauschen wollen“, setzt sie mit Nachdruck hinzu und lächelt dabei. Die Kinder stapfen unterdessen zufrieden mit ihren Stöcken durch die hohen Gräser, die Hunde traben aufmerksam herum, und die Schafe grasen friedlich vor sich hin. Und auch die dunklen Gewitterwolken haben sich für heute verzogen.
So lebt hier auf der Schwäbischen Alb eine lebendige Tradition weiter, die tiefe Wurzeln hat und dennoch immer in Bewegung bleibt. Eine Tradition von ökologischem und kulturellem Wert. Und es sieht so aus, als ob die Burkhardts noch eine ganze Weile mit Hingabe der Wanderschäferei nachgehen werden – und auch die nächste Generation sagen wird: „Wanderschäfer zu sein, das kommt von innen und geht nur mit viel Herzblut.“
Moderne Zeiten: Schafe auf Solarflächen Schafbeweidung ist eine innovative Methode, um Solarparks nachhaltig und natürlich zu pflegen. Die teils enormen Flächen unter den Solarpanelen können anderweitig kaum genutzt werden. Schafe sind ideal dafür einsetzbar, denn sie kommen überall gut hin und halten das Gras kurz – somit ersetzen sie die maschinelle Pflege. Gleichzeitig profitieren sie von den Schatten der Module. Die Solarmodule müssen lediglich einen Mindestabstand von circa einem Meter zum Boden aufweisen, damit Schafe die Aufständerungen ungehindert passieren können.
Der „Tierwirt Fachrichtung Schäferei“ ist ein anerkannter Ausbildungsberuf in der Landwirtschaft. Die angehenden Schäfer und Schäferinnen werden drei Jahre lang im dualen System ausgebildet, zum einen in tierwirtschaftlichen Betrieben vor Ort, zum anderen in einer der beiden Berufsschulen in Triesdorf oder Halle.
TEXT MONIKA HOPFENSITZ FACHLICHE BERATUNG LENA UND BERND BURKHARDT
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